Zukunftsforscher: Urbanität ist eine Frage des Mindsets, nicht des Ortes

Erstellt von Anja Barlen-Herbig | |  StandortmarketingStadtmarketingTrend

Tristan Horx ist mit der Trendforschung aufgewachsen. Sein Vater Matthias Horx hat 1998 das Zukunftsinstitut gegründet und die Trend- und Zukunftsforschung in Deutschland von Anfang an mitgeprägt. Tristan Horx betreibt Zukunftsforschung aus Sicht der Jugend und kombiniert dabei Sozial- und Kulturanthropologie mit seinen Erfahrungen in einer immer komplexer werdenden Welt.

Er ist Mitautor der Studie „Futopolis“, die sich mit der zunehmend schwierigen Trennung zwischen Stadt und Land beschäftigt. Er beobachtet, dass Urbanität immer mehr eine Frage der persönlichen Einstellung und nicht an einen Ort gebunden ist. Dorfbewohner sehnen sich nach Urbanität und Städter nach Grün vor der Haustür.

Die Zukunft gehört der Urbanisierung: Schon heute leben 75 Prozent der Menschen in Deutschland in Städten – 30 Prozent in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern. Der Megatrend Urbanisierung saugt Menschen, Ideen und Arbeit in die Metropolen, gleichzeitig fallen ganze Landstriche der Ödnis, Frustration und Verlassenheit anheim. Was sagen Sie als Zukunftsforscher dazu – ist wirklich alles so eindimensional und hoffnungslos?
Es ist ein grober Fehlschluss zu glauben, es gebe nur Urbanität und ländlichen Raum – es gibt viele Mischformen. Es gibt keine strikte Trennung. Der Trend zur Urbanisierung kehrt sich gerade um, denn jeder Trend hat einen Gegentrend. Die Menschen sind in die Metropolen gezogen wegen der Karriere, doch jetzt zeichnen sich Zivilisationskrankheiten ab. Einsamkeit ist ein großes Thema. Das Paradoxe ist, man arbeitet immer vernetzter und enger zusammen und wird dabei immer einsamer. Die Digitalisierung erzeugt einen Konflikt mit der humanen Identität. Die Menschen haben das Bedürfnis nach zwischenmenschlichen Beziehungen und die findet man eher in ländlichen Regionen.

In den nächsten Jahren wird sich also die Sehnsucht in Richtung Urbanität wieder umkehren – Dörfer, Kleinstädte und Regionen werden eine Renaissance erleben. In Ihren Studien und Vorträgen sprechen Sie von den Glokalisten, denen die Zukunft gehört – was macht diese Menschen aus?
Die Glokalisten vereinen Weltoffenheit und Regionalität. Sie haben ein urbanes Mindset – denken kosmopolitisch, fühlen aber regional. Sie sind eine Mischung aus Globetrotter und Lokalist. Ihr weltoffenes Mindset ist nicht an einen Ort gebunden – es ist ortsunabhängig. Sie suchen den sozialen Zusammenhalt, das Heimatgefühl. Die Generation der Millennials ist hier eine spannende Gruppe – die hyperdigitalen, die es in die glitzernden Metropolen der Welt zog. In ihnen wächst die Sehnsucht nach Heimat und Lokalität, nach Überschaubarkeit, Zuordnung und Besonderheit. Ihnen muss man interessante Angebote machen – schnelles Internet, moderne Jobs, moderne Arbeitsplätze, innovative Wohnformen – dann zieht es sie auch in ländliche Regionen.
 
Urbanität ist also eine Frage des Mindsets und in ländlichen Regionen entsteht eine Annäherung zwischen den “Somewheres” und den „Anywheres“ – den Irgendwos und den Dagebliebenen?
Die Anywheres sind dadurch gekennzeichnet, dass sie zwar irgendwo wohnen, aber so ortsungebunden sind, dass sie jederzeit umziehen könnten. Und das tun sie auch ziemlich häufig. Die gut bezahlten mobilen Angestellten, die Kosmopoliten und Globetrotter. Sie sind die Gewinner und Bewohner der globalen Urbanisierung. Ihr Grundverständnis stammt aus ihrem sozialen Aufstieg, sie pflegen „achieved identities“, also ein Selbstbewusstsein, das überwiegend auf ihrem beruflichen Erfolg fußt. Die Somewheres sind hingegen diejenigen, die aus vielfältigen Gründen an einem Ort geblieben sind. Meistens nicht, weil sie es unbedingt wollten. Es hat sich nur nicht anders ergeben. Im Gegensatz zu den Somewheres, die sich über einen Ort, eine Subkultur-Gruppe, oft auch über die Nation definieren müssen, weil ihre berufliche Identität weder Stolz noch Gewinnergefühle begünstigt, haben Anywheres eine „transportable Identität“.  Entscheidend für die neue soziale Differenz ist nicht der Wohnort, sondern das Mindset. Für Anywheres ist der Wandel das, was sie antreibt, herausfordert, lebendig macht – auch wenn man manchmal scheitert. Für Somewheres ist Veränderung dagegen eine ständige Verlustrechnung oder sogar eine Demütigung. Die Glokalisten vereinen beide Elemente auf einer neuen Integrationsstufe in sich, Heimat und offener Horizont. Progression und Bewahrung.

Wie zeigt sich in den Städten der Wunsch nach der neuen ländlichen Urbanität? Schafft auch Stadtluft Landlust?

Der Mensch ist eigentlich ein Landtier. Menschliche Bedürfnisse stehen über Urbanität – es gibt Studien, die belegen, wenn man zu lange auf Graubeton schaut wird man depressiv. Ein weiterer Aspekt ist die Ökobewegung – man möchte Teil des ganzen Ökosystems sein. Deshalb gibt es in den Städten immer mehr grüne Projekte, die den Wunsch nach Nachhaltigkeit stillen und gleichzeitig das menschliche Bedürfnis nach Austausch und Beziehung befriedigen. Die Dichotomie zwischen und Stadt und Land wird sich zukünftig mehr und mehr auflösen – ländliche Lebensstile halten Einzug in die Stadt und urbane Qualitäten lassen hybride, fluide Lebensformen auf dem Land entstehen. Die Bedeutung der Orte tritt zurück.

Viele Städte in Deutschland haben mit dem demografischen Wandel zu kämpfen. Die Einwohner werden weniger, Leerstände nehmen zu, die Innenstädte sind weniger lebendig – was können sie tun, um von der neuen Sehnsucht nach ländlicher Urbanität zu profitieren?

Zunächst einmal sollte man als konstante Annahmen nicht nur auf Wachstum setzen – denn das entspricht nicht dem demografischen Wandel. Das ist eine Strategie, die nicht aufgehen wird. Man sollte Qualität und Innovation fokussieren. Renaissance bedeutet auch zu experimentieren mit neuen Ideen und Ansätzen. Manche werden scheitern, andere erfolgreich. Der Einzelhandel sollte sich auf seine kuratierende und beratende Funktion konzentrieren – ein Erlebnis schaffen und besondere Produkte anbieten, alles das man online nicht kaufen kann – etwa handgefertigte Produkte. Das Gleiche gilt auch für die Arbeitswelt. Das Arbeiten wird sich in den nächsten Jahren radikal verändern. Es braucht neue innovative Arbeitsplätze wie etwa CoWorkingSpaces an ländlichen Plätzen. Ich habe gerade in Südtirol in einem gänzlich abgeschiedenen Ort einen Vortrag gehalten – da wurde aus einer alten Kaserne ein „CoWorkation“-Space entwickelt, der Urlaube mit Arbeiten verbindet.
 

Gibt es schon heute Regionen in Deutschland und Europa, die von ihrer Topografie her Provinz sind – sich aber mitten in einem vitalen Aufstieg befinden?
Wildpoldsried liegt im Allgäu, hat rund 2500 Einwohner und ist für das Zukunftsinstitut ein Musterbeispiel des Energie-Dorftyps: Das Ortsbild wird von Solarpanels und Windrädern
geprägt, das Abwasser per Pflanzenkläranlage gereinigt und bei Bauvorhaben so viel Holz wie möglich eingesetzt. Vor knapp 20 Jahren lebten in Lüchow, einem Dorf in der mecklenburgischen Schweiz, nur noch ein paar Rentner. Doch dann kamen die Zuzügler: Freiberufler und Familien auf der Suche nach Entschleunigung und Landidylle. Heute hat Lüchow eine Schule, einen Kindergarten, ein Kulturcafé und mehr als 50 Einwohner – die Hälfte davon Kinder. Lüchow ist das, was wir ein „Downshifting-Dorf“ nennt. Es gibt verschiedene Ansätze, die sich realisieren lassen – das Zukunftsinstitut hat insgesamt sechs Modelle entwickelt, an denen sich alle orientieren können, die nach Zukunftsideen für ihre ländliche Region suchen: Health-Village, kreative Hubs, Einsteiger-Kommune, Bio-Dorf, Energie-Dorf und das Downshifting-Dorf.

Die Digitalisierung und Technologie werden häufig als wichtigste Voraussetzungen für die prosperierende Entwicklung von Städten und Provinzen gesehen. Doch sind es nicht eher die handelnden Menschen vor Ort und die Beziehungen untereinander, die zu einer positiven Entwicklung führen?
Auf jeden Fall sind es die Menschen. Die Digitalisierung hat längst ihren Peak erreicht, wir befinden uns schon in der Reparaturschleife. Digitalisierung soll Prozesse erleichtern, mit denen wir uns nicht beschäftigen wollen wie etwa die ganzen bürokratischen Dinge. Man sollte aber auf keinen Fall den Dialog in einer Stadt digitalisieren – wie etwa durch digitale Bürgerbeteiligung oder ähnliches. Digitalisierung ist dazu da, uns Zeit zu schenken, die wir dann in den zwischenmenschlichen Austausch investieren können. Veränderung kann nur gelingen, wenn der Wandel von den Menschen vor Ort kommt. Und dazu, das haben auch Studien gezeigt, braucht es engagierte Einzelpersonen – oft Zugezogene –, die die anderen mit ihrer Begeisterung anstecken.

Welche Ratschläge können Sie den Verantwortlichen des Stadtmarketings – seien es kleine, mittlere oder größere Städte – mit Blick auf die Zukunft mit auf den Weg geben?
Sie sollten ein Umfeld schaffen, das Resonanz erzeugt. Resonanz ist das zwischen der Dissonanz und der Konsonanz. Die eine Hälfte schwingt und die andere weigert sich. Auf der einen Seite die motivierten Leute, auf der anderen Seite, die die nicht mitmachen wollen. Resonanz bedeutet, berührt oder bewegt zu werden. Sie bedeutet folglich nicht Konsonanz, Harmonie oder Gleichklang. Sondern: Etwas hat mich erreicht. Es geht darum, Beziehungen zu Menschen zu gestalten.  Resonanz ist eine wichtige Voraussetzung für Innovationen. Wer sich ständig absichert, keine Fehler machen will und alles genau vorausplanen möchte, kann nicht in Resonanz treten und wird sich nicht verändern.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Anja Barlen-Herbig – es erschien in der Dokumentation zur „Deutschen Stadtmarketingbörse 2019“ der Bundesvereinigung City- und Stadtmarketing, Berlin.

Foto: Tristan Horx, www.tristan-horx.com / Foto: Klaus Vyhnalek, www.vyhnalek.com

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